Wie Klaus-Jürgen und Irmgard uns fromme Jungscharler verwirrten und mißhandelten

"Den Löwenanteil sichern" - Unter diesem Titel schrieb Klaus-Jürgen Diehl (1) in der Jungscharzeitschrift "die junge schar 7/8, 1974"(2):

... Aber kommt es wirklich nur in der afrikanischen Steppe unter wilden Tieren vor, daß jeder versucht, sich seinen Löwenanteil zu sichern? Erleben wir das nicht immer wieder unter Menschen, daß jeder möglichst viel für sich zu ergattern sucht? ... Zum Beispiel auf der Jungscharfreizeit. Da können manche beim Tischgebet kaum bis zum "Amen" warten, und schon haben sie mit sicherem Griff sich das dickste Kotelett oder die längste Bratwurst vom Teller geangelt. Und wenn die Schüssel mit dem frischen Salat herumgereicht wird, dann packen die ersten ihren Teller so voll, daß die anderen am Tisch leer ausgehen. Manchmal gewinnt man den Eindruck, daß Jungen und Mädchen sich bei Tisch benehmen, als hätten sie tagelang nichts zu essen bekommen. Dabei haben wir bei uns doch alles im Überfluß, und mancher, der sich seinen Teller mit Essen vollgepackt hat, läßt ihn hinterher halbvoll stehen und stöhnt: "Ich kann nicht mehr!"
Halten wir dieses Verhalten eigentlich für richtig: "Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich?" Haben wir Tomaten auf den Augen oder sind wir so gedankenlos, daß wir nicht erkennen, wie Millionen junger Menschen in dieser Welt hungern, während es uns unverschämt gut geht? Warum haben wir so oft Angst, zu kurz zu kommen?

Soweit das Zitat. Hier stellt Klaus-Jürgen in der Tat eine entscheidende Frage: Wie kann es dazu kommen, daß fromme, wohlernährte Jungscharler sich verhalten, als müßten sie sich in einem Überlebenskampf gegen Futterkonkurrenten durchsetzen?

Wer meint, daß Klaus-Jürgen mit seinem Beispiel übertreibt, dem sei entgegnet, daß ich selbst dies als frommer Jungscharler einst auf einer Jungscharfreizeit erlebt habe: Beim Mittagessen griff ich schnell als erster zu aus einem inneren Drang heraus, zu kurz zu kommen. Und ein Mädchen beschämte mich außerordentlich, indem sie sagte: "Sei doch nicht immer so gierig!" Um so beschämender war dieser Vorfall, als es sich bei diesem Mädchen um eine aus der Gruppe der "Unfrommen" handelte, will sagen, daß sie christlich ziemlich unbeleckt in die Jungschar geraten war und nach einiger Zeit auch nicht mehr wiederkam. Und ausgerechnet von so einer mußte ich Abkömmling frommer Frommer mir meine verachtenswerten, niedrigen Triebe vorwerfen lassen.

Warum haben wir Christenkinder so oft Angst, zu kurz zu kommen? Klaus Jürgen fragte es, aber er blieb uns die Antwort schuldig. Statt dessen fuhr er fort:

Ich möchte euch bitten, euch Gedanken über die zu machen, denen es an vielen Stellen schlechter geht als euch. Z. B. Jungen und Mädchen in einem Kinderheim, die jahrelang auf ein Zuhause verzichten müssen. Oder Gastarbeiterkinder, die es schwerer in der Schule haben als ihr. Oder Kinder in Afrika oder Asien, deren Augen schon leuchten, wenn sie einmal am Tag eine Schale Reis bekommen.

Statt unsere Angst ernst zu nehmen und uns zu helfen zu verstehen, warum wir Angst hatten, machte Klaus-Jürgen etwas ganz Niederträchtiges: Er beschämte und verhöhnte uns in unserer Angst: Seht her, die armen Kinder in Indien sind schon mit einer Schale Reis zufrieden, aber ihr seid unersättlich! Daß es uns materiell nicht so schlecht ging, nannte er "unverschämt". Und dann fuhr er fort:

Wir sollten aber nicht nur über die Not nachdenken, sondern auch etwas dagegen tun. Jetzt ist wieder Urlaubszeit. Wahrscheinlich haben die Eltern euch großzügig mit Taschengeld bedacht. Fällt es da wirklich so schwer, einen Teil davon abzuzweigen - etwa für die Kindernothilfe Duisburg oder die YMCA Boys Town in Madras? Vielleicht überlegt ihr auch einmal gemeinsam in der Jungschar, ob ihr nicht die Patenschaft für ein indisches Waisenkind übernehmen könnt.

Nein, Klaus-Jürgen, es stimmt nicht, daß uns unsere Eltern großzügig mit Taschengeld bedacht haben. Wir frommen Jungscharler wurden eher kurz gehalten, weil wir lernen sollten, mit unserem Geld "vernünftig" umzugehen. Nachdem du uns beschämt hast, gibst du dich jetzt zu erkennen als einer, der dabei mitwirkt, daß wir Angst bekommen, zu kurz zu kommen. Du sagst uns: Eure Angst ist nur Selbstsucht. Denkt nicht darüber nach, wodurch sie verursacht wird. Denkt überhaupt nicht an euch selbst! Denkt nur an diejenigen, denen es schlechter geht als euch. Und: Ihr seid verpflichtet ihnen zu helfen.

Wir, die wir finanziell machtlos waren, sollten Geld weggeben für andere, denen es schlechter ging. Auf unsere Kosten sollten wir Armen die erretten, die Reichere ins Unglück gestürzt hatten. Ist es da verwunderlich, daß wir Angst bekamen, zu kurz zu kommen? Zum Schluß holte sich Klaus-Jürgen noch einen Größeren zu Hilfe, der ebenfalls die Selbstaufopferung von uns verlangte:

Jesus sagt einmal: "Wer zwei Jacken besitzt, verschenke eine dem, der keine hat; und wer zu essen hat, der mache es genauso!" (Luk. 3, 11). Jesus erwartet von uns, daß wir lernen, mit denen zu teilen, die weniger als wir haben. Wer teilt, hat mehr vom Leben.

Ein teuflisch dialektischer Satz, Klaus-Jürgen! Und er war für uns Christenkinder falsch und bösartig! Nein, Herr Jesus, wir Christenkinder hatten ein Recht darauf, zwei Jacken zu besitzen! Es gab genug Leute, die reicher waren als wir, und die dem, der keine hatte, eine kaufen konnten. Indem du uns zur Selbstlosigkeit drängtest und verführtest, pflanztest du die Angst in unsere Herzen, daß wir selbst zu kurz kommen in unserem Leben. Und diese Angst kam regelmäßig in solchen "Bratwurstexzessen" zum Vorschein die dein Helfershelfer Klaus-Jürgen auf Jungscharfreizeiten beobachtet hat.

Nun könnte manch einer meinen, daß der zitierte Text vielleicht nur ein Ausrutscher von Klaus-Jürgen war und er es doch gar nicht so schlimm meine. In "die junge schar 12, 1973, S. 5" können wir jedoch nachlesen:

Wer erkennt, daß Jesus die Hauptsache an Weihnachten ist, der kann auch auf einen Teil seiner Geschenke verzichten, um stattdessen viel ärmeren Kindern in der Welt zu helfen. Bist du zu einem solchen Verzicht bereit? Dann rede doch mit deinen Eltern und überlegt gemeinsam, wo ihr einem Kind, dem es schlechter geht als dir, zu Weihnachten eine Freude machen könnt.

Schon 1973 säte der Wiederholungstäter Klaus-Jürgen Zwietracht ins Kinderherz und brachte uns Christenkinder dazu, uns für unsere spontane Freude an unseren Weihnachtsgeschenken zu schämen. Stattdessen erlegte er uns die Pflicht zum Verzicht auf.

Den Zwang zur Selbstverleugnung hat sich Klaus-Jürgen nicht selbst ausgedacht. Denn als fleißiger Bibelleser hat er bestimmt im Lukas-Evangelium das folgende Jesuswort gefunden und verinnerlicht:

Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's erhalten (Lukas 9, 23-24).

Die Verpflichtung zu Dienst und Selbstlosigkeit als vorrangige Lebensorientierung kommt auch im folgenden Ausspruch Jesu zum Ausdruck, der mein Konfirmationsspruch war:

Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dient, den wird mein Vater ehren (Johannes 12, 26).

Klaus-Jürgen war nicht der einzige, der in Jungscharzeitschriften die Seelen frommer Jungscharler quälte. Bereits im Vorgängerblatt "Die Spur 9, 1970, S. 2" (2) hatte Irmgard Hirt geschrieben:

Es gibt Pflanzen, die erst dann blühen, wenn sie recht "kurz gehalten" werden mit Wasser, und wenn sie nicht in einem zu großen Blumentopf stecken. Ist das der Fall, dann breiten sich die Wurzeln mehr und mehr aus, und aller Saft und alle Kraft geht da hinein. Ist der Topf aber enge und die Kraft zusammengedrängt, dann konzentriert sie sich auf das, was man von ihr erwartet, nämlich Blüte und Frucht.
Ist es bei uns nicht ähnlich?
Wir leben sehr gemütlich ohne Sorgen, ohne Hunger, ohne Bedrängnis. Wir hören zwar von den Leiden in der Welt und wissen, daß Tausende von Kindern verhungern, aber es rührt uns sehr wenig. So kommt unser Leben nicht zum Fruchtbringen, unser Blumentopf ist zu groß.

Ein vortreffliches Gleichnis des Lebens von uns Christenkindern hast du hier gezeichnet, Irmgard: Nicht breite, starke Wurzeln sollten wir bekommen. Wurzeln, auf die wir uns in unserem Leben verlassen können, die uns Halt geben und uns mit allem versorgen, was wir brauchen. Nein, einzig und allein wichtig war das, "was man von uns erwartete", nämlich: "Frucht bringen"! Ein zentraler Begriff der christlichen Lehre.

Nur wenn unsere Lebensgrundlagen und unsere Bedürfnisse bedrängt und bedroht wurden, konnten wir "Frucht bringen". Und nur "Frucht bringen" war gottgefällig. Du schriebst weiter:

Fragt einmal eure Eltern und Großeltern, wie es war in den Jahren der Not und Angst, im Kriege und danach. Da waren wir fröhlich und dankbar für trockenes Brot, für Gesundheit und Arbeit. Nicht daß ich euch solche Zeiten wünschte, aber ich wünsche euch die Erfahrung, daß solche schwere Belastung dennoch Freude und seelische Kraft mit sich bringt. Niemals von allein - , aber dem Menschen, der sich und sein Leben unter Gottes Vaterhand gestellt hat, wird es geschenkt, zu sagen, wie der Dichter des 138. Psalmes (Vers 3): "Wenn ich dich anrufe, erhörst du mich und gibst meiner Seele große Kraft." Da steht nicht: "Wenn ich dich anrufe, errettest du mich aus aller Not", sondern es heißt: "Du gibst meiner Seele große Kraft."

Nicht nur, daß du uns die "Tausende verhungernder Kinder" vorhieltst, wie Klaus Jürgen es später mit den "Millionen hungernder junger Menschen in dieser Welt" tat, jetzt ludst du uns auch noch die Kriegsleiden unserer Eltern und Großeltern aufs Gewissen. Ist dir überhaupt klar, was deine Worte damals in uns auslösten? Du hast es fertiggebracht, daß wir uns dafür schuldig fühlten, daß es uns gut ging. Anstatt die Verursacher des Leids im Weltkrieg, in Asien und Afrika anzuklagen, hast du uns zur Last gelegt, daß wir in glücklicheren Zeiten und an besseren Orten aufwuchsen.

Und außerdem behauptetest du, daß ein Mensch, der sich "unter Gottes Vaterhand gestellt hat" alle Leiden mit Freude und Kraft erträgt. Eine weitere boshafte und widerwärtige Lüge, die uns, die wir unter unseren Nöten litten und uns nicht freuten, die keine aus Gottes Vaterhand strömende Kraft wahrnehmen konnten, dazu brachte zu glauben, daß irgendetwas mit uns nicht stimmte, während die frommen Eltern und Großeltern und allen voran Irmgard Hirt selbst offenbar eine bessere und innigere Beziehung zu Gott hatten.

Aber es kam noch happiger, denn Irmgard schrieb weiter:

Gott läßt uns manchmal in eine Not kommen, damit wir wachsen und reifen sollen. ER schenkt Kraft und Ausdauer im Leiden und läßt unser Leben zu dem werden, wozu ER es bestimmt hat: Zu einem guten Baum, der gute Früchte bringt.
Daran wollen wir denken, wenn wir meinen, unser "Blumentopf" sei zu klein geraten.

Das also ist Gottes Programm für uns Christenkinder: Er bringt uns in Not und läßt uns leiden, damit wir das tun, was er für uns bestimmt hat: "Frucht bringen" auf Kosten unseres eigenen Lebens.

Danke, Irmgard, daß wir erwachsenen Christenkinder nachlesen können, wie grausam und bösartig der angeblich "liebe" Gott in Wirklichkeit ist, und wie er unser Leben eingeschnürt hat. Aber das macht nicht vergessen, daß du 1970 uns fromme Jungscharler mit deinem Sermon verwirrt und mißhandelt hast.

Übrigens: Was denn diese "Frucht" ist, die wir Christenkinder bringen sollten, können wir bei Paulus nachlesen:

Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit (Galater 5, 22).

Das waren die ausschließlichen Eigenschaften und Gefühle, die für uns Christenkinder zulässig waren. Andere Seelenäußerungen wie Zorn, Wut, Ärger, Traurigkeit, Verzweiflung, Angst oder Widerwille waren unpassend, durften nicht sein. Auch jedes Bedürfnis, eigene Interessen durchzusetzen oder für sich selbst etwas zu tun, war verpönt. Uns wurde außerdem beigebracht, daß nur Gott die "Früchte des Geistes" in uns bewirken könne (aber trotzdem waren wir doch irgendwie auf sie verpflichtet und für sie verantwortlich), während unsere natürlichen Bestrebungen, die sogenannten "Werke des Fleisches" ganz anderer Art seien, nämlich:

Unzucht, Unreinigkeit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, Neid, Saufen, Fressen und dergleichen, von welchen ich euch vorausgesagt habe und sage nocheinmal voraus, daß, die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben (Galater 5, 19-21).

D. h., alles in uns, was den "Früchten des Geistes" widersprach, führte in die Verdammnis. Alles, was ihnen entsprach, kam jedoch nicht aus uns, sondern wurde durch Gott in uns bewirkt. Wir wurden systematisch darauf konditioniert, uns selbst als schlecht, böse und ungenügend zu erleben.

Da es uns nicht immer möglich war, uns über die Abgründe unseres Fleisches zu erheben, denn kein Kind kann immer nur "Früchte des Geistes" vollbringen, schwebten wir frommen Jungscharler immer ein Stück über dem feurigen Pfuhl der Verdammnis und dachten, daß dies an uns läge. Durch die christliche Indoktrination völlig verwirrt, war es uns nicht möglich zu erkennen, daß auch Gott seinen Teil des Geschäftes mitnichten erfüllte, denn es strömten uns keinerlei Kräfte von ihm zu, die uns befähigt hätten, seinen perfektionistischen Ansprüchen zu genügen. Gott hat doch tatsächlich sein Versprechen nicht gehalten und uns dafür in den Tod geschickt! Unvorstellbar war das früher für mich. Heute kommt mir die Wut hoch über diesen Verrat.

(1) Als ich 1999 diesen Text verfasste, wusste ich nicht, wer Klaus-Jürgen Diehl war. Ich hielt ihn für irgendein Mitglied der Redaktion einer Jungschafzeitschrift. Erst Jahre später stieß ich im Internet darauf, dass er zur damaligen Zeit und insgesamt 24 Jahre lang Bundeswart des CVJM-Westbundes war. Seit 1995 leitet er das Amt für Missionarische Dienste der Evangelischen Kirche von Westfalen. Zu seinen Ehrenämtern gehören die Mitgliedschaft in der westfälischen und der EKD-Synode, im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz und im Leitungskreis der Lausanner Bewegung Deutschland.

(2) "Die Spur" und "die junge schar" waren gemeinsame Jungscharzeitschriften des EC-Verbandes und des CVJM aus den 60er und 70er Jahren des 20.Jahrhunderts. Der EC-Verband nennt sich heute Deutscher Jugendverband "Entschieden für Christus".

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